Die Barockmusik als kulturelles Identifikationsmerkmal für die Region stark machen

Prof. Dr. Wolfgang HirschmannDa ich in der Anfangszeit der MBM noch nicht persönlich beteiligt war, möchte ich mich im Wesentlichen über die Jahre seit 2007 äußern. Mit Beginn meiner Präsidentschaft kamen wesentliche Änderungen auf die MBM zu. Aufgrund einer enormen Mittelkürzung sind zunächst einmal die sogenannten B-Projekte aus der Förderung heraus gefallen; fortan wurde ein ‚Event’ verlangt mit überregionaler bis bundesweiter Ausstrahlung. Da dies immer wieder kritisiert wird, möchte ich jedoch betonen, dass auch kleinere Projekte, die etwas Besonderes bieten können, durchaus nach wie vor eine Chance haben.
Eine einschneidende Neuerung war die Einstellung der bisherigen Publikationen und Editionsreihen. Der wissenschaftliche Bereich war ja ursprünglich sehr dominant und in seinem Anspruch, der sich etwa in der Reihe „Denkmäler Mitteldeutscher Barockmusik“ manifestierte, vielleicht schon immer etwas zu groß für die MBM – was die Finanzierung wie die dazu erforderlichen Mitarbeiter angeht. Außerdem waren diese Ausgaben doch sehr traditionsverhaftet und eher an Ideale des 19. Jahrhunderts angelehnt. Aufgrund weitgreifender Vertragsbindungen, die 2014/15 auslaufen, erscheinen die letzten Bände nun in diesem Zeitraum. Auch das „Jahrbuch der Mitteldeutschen Barockmusik“ wurde eingestellt. Dessen Kernpunkt war die Tagungsakte der alljährlichen wissenschaftlichen Konferenz. Auch dieses in der Nach-Wende-Euphorie entstandene Konzept war wohl etwas zu groß dimensioniert.
Diese beiden Reihen wie auch die „Schriften zur Mitteldeutschen Musikgeschichte“, die vor allem Dissertationen aus Halle, Dresden, Weimar und Jena veröffentlichten, werden nun durch das „Forum Mitteldeutsche Barockmusik“ ersetzt. Diese neue Reihe hat den großen Vorteil, dass sie weniger aufwendig, inhaltlich flexibler und ohne festen Erscheinungstermin gehandhabt werden kann. Enthalten kann darin sowohl eine Dissertation als auch ein Tagungsbericht, eine Monographie oder eine Dokumentensammlung sein.
Trotz aller Veränderungen ist die Idee, die Barockmusik in Mitteldeutschland als kulturelles Identifikationsmerkmal für die Region stark zu machen, natürlich gleich geblieben. Denn diese Dichte der Residenzkultur auf so engem Raum ist eine Besonderheit, die die Verbindung zu authentischen Spielstätten nahelegt. Vermittelt wird sie insbesondere durch die „Tage Mitteldeutscher Barockmusik“, die jedes Jahr an einem anderen Ort stattfinden. Ganz besonders vielfältig ist etwa auch die Orgellandschaft Mitteldeutschlands. Es gibt hier einfach einen riesigen kulturellen Reichtum!
Mich, der ich aus Franken hierher gekommen bin, fasziniert nicht nur diese Dichte von Gedächtnisorten, sondern auch der Charakter des Schmelztiegels: Gerade im 17. und 18. Jahrhundert trafen hier Einflüsse aus ganz Europa aufeinander. Musik aus England, Frankreich, Italien, Skandinavien wurde nicht nur hier gespielt und gepflegt, sondern auch in eine eigene Musiksprache integriert und zu etwas ganz Neuem, Eigenen verschmolzen. Die Keimzelle dieses besonderen Stils liegt hier in Mitteldeutschland. Das hohe Bildungsideal ist bis heute spürbar, etwa an der enormen Dichte von, zum Teil ganz hervorragenden, Chören. Schon durch Luthers Wertschätzung der Musik wurde dieses Ideal hier fest verankert und wirkt bis heute nach. Nehmen wir nur einmal das vor allem im Thüringischen blühende System der Adjuvanten, also der nach der Reformation in den evangelischen Kirchen tätigen Laienmusiker: In kleinsten Dorfarchiven finden sich Notenbibliotheken von erstaunlicher Vielfalt – und mit europäischen Dimensionen: Auch auf dem Dorf wurde hier Gabrieli gespielt! Es gab eine Fülle gebildeter Laien; die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an musikalischer Bildung und der Musikpflege muss immens gewesen sein.
Doch zurück zur MBM im Jahr 2007: Das Kuratorium, bestehend aus je einem Vertreter des Bundes und der drei Länder, forderte eine Verlagerung auf weniger und herausragendere Projekte. Zugegebenermaßen wäre es natürlich reizvoll, den ganzen Musikreichtum im Blick zu haben und sich auch um weniger Berühmtes und am Rande Liegendes zu kümmern, aber die Geldgeber hatten ein eindeutiges neues Konzept zur Verteilung der Gelder vorgegeben. Inzwischen freilich besteht bei den Verantwortlichen nach meiner Einschätzung wieder eine größere Offenheit für das barocke Mitteldeutschland als „klingende Landschaft“.
Heute macht die MBM anhand ihrer formalen und inhaltlichen Förderkriterien Vorschläge, welchen Projekten eine Förderung zuteil werden sollte; die Entscheidung liegt jedoch beim Kuratorium. Sicher ist das einerseits problematisch, wenn sich die Politik konzeptuell-inhaltlich in die Kultur einmischt; andererseits verfolgen die Geldgeber aber auch ganz legitim eigene Interessen, insbesondere das des Imagegewinns. Seit 2008 ist im Entscheidungsprozess eine Jury hinzugekommen: Diese besteht aus Musikern, Musikwissenschaftlern und Musikmanagern und soll zwischen der MBM und dem Kuratorium vermitteln. Das Prozedere sieht nun wie folgt aus: Bis Ende März müssen Förderanträge bei der MBM eingegangen sein, aus denen das Präsidium im Mai eine Vorschlagsliste erstellt. Gleiches tut die Jury. Beide Listen werden dem Kuratorium zur Entscheidung vorgelegt, das dann den Etat von 615.000 Euro verteilt.
Das Konzept sieht vor, dass auch unbekannte Werke zu erschließen und Schätze aus Archiven zu bergen sind. Je nach der Zusammensetzung des Kuratoriums sind diese Ansätze einmal mehr und einmal weniger vermittelbar… Fragen der Auslastung sind natürlich immer auch zu berücksichtigen, d.h. erwünscht sind Programme, die eine breitere Hörerschicht ansprechen können. Die Resonanz auf die Angebote darf nicht aus dem Blickfeld geraten! Bei der Neuorganisation des Heinrich Schütz Musikfests, die im Wesentlichen das Verdienst unserer Geschäftsführerin Frau Dr. Siegfried ist, ist uns das wunderbar gelungen: Wir haben die drei Schütz-Städte zusammen geführt, die Kinder- und Jugendprogramme ausgebaut, einen ‚artist in residence’ sowie die Reihe ‚Kontrapunkt modern’ neu eingeführt. Das wird in wachsendem Maße angenommen! Und Schütz hat sich als eine sehr passende Identifikationsfigur erwiesen…
Unsere zweite große Eigenveranstaltung sind die schon erwähnten „Tage Mitteldeutscher Barockmusik“: Er ist ja ein wenig als ‚Wanderzirkus’ angelegt, was einerseits gut ist, weil er durch alle drei Länder wandert, andererseits das Problem einer sehr unterschiedlichen Kooperation vor Ort birgt: Mal haben wir es mit Musikmetropolen zu tun, mal mit kleinen, unbekannten Orten. Dort ist dann kulturelle Basisarbeit zu leisten: Wenn die MBM nichts initiiert, passiert auch nichts. Aber im Idealfall haben wir gerade hier tolle Erfolgserlebnisse, die dann auch bei Kulturverantwortlichen gut ankommen! Und wenn ich mein ‚schönstes MBM-Erlebnis’ benennen sollte, dann wäre es die Nebucadnezar-Inszenierung der „Tage der MBM“ 2011 in Zittau: Das Schuldrama von Christian Weise aus dem Jahre 1684 wurde hier von Schülern gemeinsam mit Alte-Musik-Spezialisten erarbeitet. Wie hervorragend sich die Schüler eingebracht haben und wie toll das Zusammenspiel mit den Profis funktionierte, das war ungeheuer beeindruckend und steht für mich exemplarisch für das Bestreben der MBM: Ein unbekanntes Stück, ein Bezug zur Historischen Aufführungspraxis und eine Verbindung mit der Jugendarbeit!
Grundsätzlich sehe ich das Verdienst der 20jährigen MBM-Geschichte darin, dass sie der Erforschung und Wiederbelebung der mitteldeutschen Musikkultur wesentliche Impulse gegeben hat. Als zweites wäre das Heinrich Schütz Musikfest zu nennen: Es ist zur attraktiven Alternative unter den namhaften deutschen Musikfestivals geworden und profiliert die Eigenart der MBM, ohne in Spezialistentum zu verfallen. Als dritte Errungenschaft möchte ich den derzeitigen weitreichenden Konsens zwischen den Gremien anführen: Alle ziehen an einem Strang! Für die Zukunft wäre eine noch stärkere Vernetzung anzustreben: Wir sollten nicht nur punktuell fördern, sondern das Netz von Beziehungen und Kontakten zwischen den Institutionen in Mitteldeutschland noch dichter knüpfen, um durch Koordination Synergien zu erzeugen und zur Identitätsstärkung gemeinsame Strategien zu verfolgen. Die derzeitigen zahlreichen Aktivitäten sollten noch stärker gebündelt und koordiniert werden. Die Idee der Verbindung von Forschung und musikalischer Praxis muss noch weiter gestärkt und gepflegt werden. Dass wir dabei immer nur im Jahreszyklus planen und arbeiten können, weil wir jeweils nur ein Jahresbudget haben, macht unsere Arbeit leider nicht einfacher…